Innerhalb der Politikwissenschaft existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Politikbegriffe,- definitionen und -verständnisse, die auf unterschiedliche ideengeschichtliche Traditionen, Erfahrungen und Interessen zurückzuführen sind. Der klassische Politikbegriff stammt von der griechischen »polis« ab, welche Stadt oder Gemeinschaft bedeutet: In der »polis« hatten alle freien und männlichen Bürger das Recht und die Pflicht über die Angelegenheiten der Gemeinschaft mitzubestimmen. Ausgeschlossen waren Frauen, Sklaven und Zugezogene. Eine allgemeine Definition von Politik findet sich im gängigen Politiklexikon wieder. Dort heißt es:
»Politik bezeichnet jegliche Art der Einflussnahme und Gestaltung sowie die Durchsetzung von Forderungen und Zielen, sei es in privaten oder öffentlichen Bereichen.« 1
Politik ist nach dieser Definition nicht auf Parteien, Institutionen und den Staat beschränkt, sondern umfasst eine Vielzahl von Inhalten, Praktiken, Prozessen und Formen. Kurz: Politik findet überall dort statt, wo Menschen ihre Meinungen und Bedürfnisse verhandeln.
Das Selbstverständnis, »unpolitisch« zu sein und »nur seine eigene Meinung zu sagen«, verbindet eine Mehrzahl von Personen in den von uns untersuchten Lebenswelten. Es findet sich in Liedtexten, Interviews und Facebook-Einträgen entsprechend häufig wieder.
Politik erfährt dort in der Regel eine Reduktion auf Parteien, staatliche Institutionen und Parlamente, subsummiert wird dies unter »die da oben«. Allenfalls werden noch diejenigen, die sich selbst als politische Aktivist*innen benennen, wie zum Beispiel die Antifa, als politisch wahrgenommen. Alle Meinungen und Handlungen außerhalb dieses eng gesteckten Rahmens gelten als Privatangelegenheit und das Private wird als per se politikfreier Raum verstanden. Selbst eindeutige politische Parolen oder die Zurschaustellung rechter Symbole werden innerhalb der rechten Lebenswelten meist als »private Meinung« einer Einzelperson verstanden.
Button mit Aufschrift »Deutschrock gegen Politik«
Im Selbstverständnis »unpolitisch« zu sein steckt oft mehr als das bloße Bedürfnis, sich aus den Konflikten zwischen links und rechts herauszuhalten. Durch die Markierung der eigenen Meinung als »privat« wird versucht, jede Einmischung und Kritik zu unterbinden und sich der Aushandlung zu entziehen. Unter dem Schutzmantel des »Unpolitischen« und der »privaten Meinung« verstehen sich Personen in rechten Lebenswelten sozialkritisch, rebellisch, manchmal auch patriotisch, diskreditieren sogenannte »Gutmenschen« oder fordern die »Todesstrafe für Kinderschänder«.
Politik ist in den von uns untersuchten Szenen ausschließlich mit Negativbegriffen belegt: Sie gilt als schmutziges Geschäft, hinterhältig, korrupt und unehrlich. Als Gegenpol wird der »einfache Mensch« gezeichnet, der keiner politischen Idee und Intellektualität anhängt. Diesem werden Tugenden wie Arbeitsethos, Korrektheit und Natürlichkeit zugeschrieben. Politik wird als Prozess begriffen, der den Menschen von seinem »wahren Wesen« und dem »echten« Leben entfremden würde. Der Mensch sei von Emotionen geleitet, und diese fänden außerhalb politischer Sphären statt. Dieses Verständnis verbindet sich stark mit der Naturalisierung des Sozialen (› dort). Frei.Wild singen in ihrem Lied »Land der Vollidioten« (2006):
»Ihr seid dumm, dumm und naiv, wenn ihr denkt, Heimatliebe ist gleich Politik«.
In ihrem Song »Schlagzeile groß, Hirn zu klein« (2012) werden sie noch deutlicher:
»Frei.Wild wird immer größer und ihr werdet erkennen. Menschen kann man nicht von ihren Gefühlen trennen. Diese sind nicht braun und auch nicht rot. Und gegen Extremismus, du Vollidiot.«
Nicht einmal das Bekenntnis gegen »Extremismus« gilt als Akt rationaler Überlegung und Überzeugung, sondern als Ausdruck eines innewohnenden Gefühls.
Indem Politik mit Entfremdung und Fremdbestimmung gleichgesetzt wird, wird eine moralische Erhöhung betrieben und (politischer) Kritik die Diskussionswürdigkeit aberkannt. Die eigene, wahrhaftige Meinung erscheint der Kritik stets überlegen, da (politische) Kritiker*innen »gar keine eigene Meinung« haben könnten.
Dieses insbesondere in der rechten Oi-Szene beliebte T-Shirt-Motiv zeigt eine Person mit Bierflasche, die sich erbricht und den Schriftzug »Unpolitische Aktion« trägt. Foto: Facebook
Die Metaphern und Selbstbilder des »Unpolitischen«, die in den von uns untersuchten Szenen vorherrschen, knüpfen an gesellschaftlich weit verbreitete Vorstellungen an. Viele Menschen sind der Meinung, dass »die da oben« sowieso machen würden, was sie wollten. Sie haben nicht (mehr) das Gefühl, in politische Entscheidungen eingebunden zu sein, bzw. von diesen berücksichtigt zu werden. Die daraus resultierende sogenannte Politikverdrossenheit ist vielmehr eine Parteienverdrossenheit, die nachvollziehbar ist. Überaus problematisch wird dies, wenn sich die »Verdrossenen« als Rebell*innen inszenieren, ihre politischen Anliegen aggressiv vortragen und sich zugleich der politischen Kritik – und vor allem den Konsequenzen für ihr Handeln – dadurch entziehen (wollen), dass sie mittels der Chiffren »private Meinung« und »unpolitisch« jegliche Zuständigkeit und Verantwortung von sich weisen. Eigenes Verhalten (z. B. Machtausübung, Konsumorientierung, Umweltverhalten) entzieht sich der Selbstreflexion und bei Missständen funktioniert stets die Schuldzuweisung an die »Anderen« und an »die da oben«.
Am 7. März 2013 erklärte Dr. Florian Drücke, Geschäftsführer des Bundesverbandes Musikindustrie, die Rücknahme der Nominierung der Band Frei.Wild vom Musikpreis ECHO:
»Um zu verhindern, dass der ECHO zum Schauplatz einer öffentlichen Debatte um das Thema der politischen Gesinnung wird, hat sich der Vorstand nach intensiven Diskussionen dazu entschlossen, [...] die Band Frei.Wild von der Liste der Nominierten zu nehmen.« 2
Die Ansicht, dass der ECHO kein Schauplatz einer öffentlichen Debatte um die politische Einstellung einer Band sein dürfe, erfährt (noch) breiten Widerspruch. Jedoch besteht in verschiedenen Musikkulturen – so in Oi und Deutschrock – der breite Konsens, dass die eigenen Szenen per se politikfrei (also unpolitisch) seien.
Im Fußball zieht sich das Narrativ von Sport und Stadion als »unpolitische Räume« von der extremen Rechten bis hin in höchste Funktionärsebenen. Die Parole der extrem rechten Band Kategorie C – Hungrige Wölfe »Fußball ist Fußball und Politik bleibt Politik« ist mit der Ansicht des UEFA-Präsidenten Michel Platini deckungsgleich: »Fußball ist Fußball, Politik ist Politik.« 3 Derartige Aussagen von Funktionär*innen bestärken manche Verbände, Vereine und Funktionäre in ihrer Meinung, dass es im Fußball nur um das Spiel an sich und um das damit verbundene Geschäft gehen dürfe.
In ihren Satzungen formulieren Vereine – schon als Voraussetzung für die Anerkennung einer Gemeinnützigkeit – in der Regel das Bekenntnis zur »Freiheitlich Demokratischen Grundordnung«. Damit erklären sich die Vereine für das politische Gemeinwesen verantwortlich. Bei Konflikten, beispielsweise um rechte Aussagen oder rechte Akteur*innen im Vereinsrahmen, verweisen Vereinsführungen jedoch häufig auf den »unpolitischen« Status Quo von Sport und Verein. Dieser Widerspruch ist nur über die höchst problematische Reduktion des Politischen aufzulösen.
Angesprochen auf die vielen Dynamo-Fans bei PEGIDA-Demonstrationen verwies der Geschäftsführer der SG Dynamo Dresden im Januar 2015 darauf: »Wir müssen uns als Sportverein politisch neutral verhalten«, um sich danach »gegen Fremdenfeindlichkeit und für Vielfalt« auszusprechen. 4
Als der VFR Aalen im Sommer 2015 einen Kader der NPD, zugleich ein exponiertes Mitglied der Aalener Ultra-Szene, zu einem Strategietreffen des Vereins einlud, konterte ein Vertreter dessen Aufsichtsrates die öffentliche Kritik mit der Aussage: »Wir sind ein Fußballverein. Wir kümmern uns um Fußball. Fertig.« 5
Zudem: Wenn Politik in Verein oder Stadion zum Streit führt, dann wird dies oft fälschlich als eine Störung dargestellt, die von vereins- und fußballfremden Personen verursacht worden sei. Doch wie sollen wirksame Strategien gegen rechts entwickelt werden, wenn in der Grundanalyse bereits das Eingeständnis fehlt, dass das Problem zum Teil eben auch hausgemacht ist?
Der Fanclub Brigade Bochum des VFL Bochum stellte sich stet als »unpolitisch" dar, wie hier auf dem Transparent im Jahr 2014 zu erkennen ist. Dabei zählten 2014 zwei Dutzend Mitglieder des Fanclubs zum Begründerkreis des extrem rechten Netzwerks Hooligans Gegen Salafisten (HoGeSa). Nachdem dies medial aufgegriffen wurden, übten Bochumer Fans Druck auf den Fanclub aus, so dass sich dieser von seinen extrem rechten Mitgliedern trennen musste, die zudem aus dem Block verbannt wurden.
Eine Folge der Vorstellung, dass sich der Verein nur um Fußball zu kümmern habe und neutral verhalten müsse, ist, dass selbst extreme Rechte mancherorts einflussreiche Positionen in der Vereinsarbeit, beispielsweise in der Jugendbetreuung, bekleiden dürfen.
Die Konstruktion des Stadions als »unpolitischer Raum« spiegelt sich in der verbreiteten Parole »Politik raus aus den Stadien!« wider. Dies nützt mehr den Rechten denn ihren politischen Gegner*innen. So könnten nach Ansicht vieler Fans Aussagen wie »Schiri, du schwule Sau« oder »Zick Zack Zigeunerpack« gar nicht politisch sein, da sie ja in einem als »unpolitisch« festgelegten Raum stattfänden. Viele Fans widersprechen diskriminierenden Äußerungen nicht, da sie fürchten, sich darüber in ein politisches Konfliktfeld zu begeben. Dies führt dazu, dass rechte Aussagen und Neonazis an Fußball-Treffpunkten oft akzeptiert werden, solange sie dem Image des Vereins nicht schaden. So stabilisieren sich rechte Fangruppen. Diejenigen, die sich gegen Neonazis und rechte Sprüche wenden, müssen hingegen darauf achten, nicht als Störer*innen des inneren Friedens ausgemacht und isoliert zu werden.
Als die Gruppe Aachen Ultras im Aachener Stadion gegen die von Neonazis durchsetzte Fangruppe Karlsbande Stellung bezog, wurden sie als diejenigen gebrandmarkt, die unerlaubt Politik ins Stadion brächten. Rechte Schläger erklärten sich zu Hütern des »unpolitischen« Konsens, ihre gewalttätigen Übergriffe auf die nicht-rechten Ultras wurden von vielen Zuschauer*innen akzeptiert. Der Verein verweigerte den Aachen Ultras Unterstützung und vertrat die Position, dass diese Auseinandersetzungen mit Fußball nichts zu tun hätten. Die Aachen Ultras zogen sich 2013 entnervt aus dem Stadion zurück und lösten sich auf. Die Rechten hatten den Kampf um den »unpolitischen« Raum gewonnen.
Die Beispiele aus Aachen, Dresden, Aalen und anderen Orten zeigen, dass das Verständnis von Stadien und Fantreffs als gesellschaftspolitische Räume vielerorts noch nicht angekommen ist und sich viele Vereine noch immer aus der Verantwortung stehlen. Dennoch: Verschiedene Kampagnen der letzten Jahre, beispielsweise gegen Rassismus oder Homophobie, die in Stadien und Fanszenen stattfanden und von Fußball-Verbänden und Fußball-Vereinen mitgetragen wurden, waren ein wesentlicher Fortschritt. Denn sie ließen eine politische Haltung der Vereine und Verbände erkennen und verschafften engagierten Fans Rückendeckung, selbstbewusster gegen rechts aufzutreten und eigene Aktionen zu entwickeln. Robert Claus, Mitherausgeber des Sammelbandes »Zurück am Tatort Stadion«, verweist 2015 im Interview mit dem Antifaschistischen Infoblatt auf diesen Aspekt: »Entscheidend wird sein, die Teile der Fanszenen dauerhaft zu unterstützen, die sich gegen Neonazis und Diskriminierung engagieren. Denn nur sie kennen ihre Kurven, stehen dort jede Woche und bestimmen die (politische) Atmosphäre.« 6
1 Martina Klein, Klaus Schubert, Das Politiklexikon. 5., aktual. Aufl., Bonn: Dietz 2011
2 www.musikindustrie.de/presse_aktuell_einzel/back/82/news/deutsche-phono-akademie-nimmt-freiwild-von-der-liste-der-diesjaehrigen-echo-nominierten (Zugriff 15.11.2015)
3 Michel Platini antwortete mit dieser Aussage im August 2014 auf die Frage, ob er sich mit den politischen Verhältnissen im diktatorisch regierten Aserbaidschan beschäftigt habe. Zuvor war der Öffentlichkeit die Idee der UEFA bekannt geworden, Vorrundenspiele der Fußball-EM 2020 in Aserbaidschan auszutragen.
4 Christoph Ruf, Dynamo Dresden und Pegida, Gespaltene Stadt, gespaltener Verein«, 05.09.2015, http://www.spiegel.de/sport/fussball/dynamo-dresden-ist-gespalten-im-umgang-mit-pegida-a-1012508.html
5 Christoph Ruf, VfR Aalen und der NPD-Funktionär:, »Was soll daran verwerflich sein?«, in http://www.spiegel.de/sport/fussball/vfr-aalen-lud-npd-funktionaer-zu-strategiegespraech-ein-a-1051244.html
6 »HoGeSa ist Teil einer längeren Entwicklung«, Interview mit Robert Claus in: Antifaschistisches Infoblatt, Nr.108, Herbst 2015